Produktionsnotizen
ENTSTEHUNG
Als die britische Produzentin Andrea Calderwood mit der Idee auf Paul Laverty zukam, ein Drehbuch auf Grundlage von Carlos Acostas Autobiografie „Kein Weg zurück“ zu schreiben, reagierte er zunächst eher zurückhaltend. Das Projekt war so ganz anders als alles, was er bisher gemacht hatte. Aber gleichzeitig faszinierte ihn der Stoff. Er gab das Buch Acostas Icíar Bollaín zu lesen, mit der er auf der Suche nach einem neuen Projekt war. Damit war die Entscheidung getroffen. „Die Geschichte kam mir vor wie eine Art Gegenentwurf zu Billy Elliot: Die Geschichte eines unglaublich talentierten Kindes, das aber gar nicht tanzen will“, sagt Icíar Bollaín. „Ich sah in der Biografie von Carlos eine Fülle von Möglichkeiten, eine Geschichte voller unglaublicher Elemente: Drei Generationen zuvor lebten seine Vorfahren noch in Sklaverei, er stammt aus sehr bescheidenen Verhältnissen – und wird zum legendären Principal Dancer am Royal Ballet, zum ersten schwarzen Romeo. Und gleichzeitig war die Geschichte dieser Familie wie ein Spiegel der letzten 40 Jahre auf Kuba.“
Paul Laverty suchte nach Möglichkeiten, diese Geschichte fürs Kino zu erzählen. „Ich spürte von Grund auf, dass wir mehr brauchten, etwas anderes. Ich flog nach Havanna und begleitete Carlos und sein junges Tanzensemble zwei Wochen lang bei den Proben. So nah an diesem Prozess zu sein, hat mich umgehauen. So ist die Idee entstanden: Warum erzählen wir nicht Teile der Geschichte durch den Tanz? Und könnte Carlos nicht sich selbst spielen?“
NARRATION UND TANZ
Eine der größten Herausforderungen, die sich für Paul Laverty beim Schreiben und später für Icíar Bollaín in der Inszenierung stellte, war die Erzählung wichtiger Teile und Elemente der Geschichte allein durch den Tanz. „Während der Recherche und Vorbereitung haben wir bemerkt, dass es viele Filme gibt, die mit Tanz zu haben haben, so wie Black Swan oder Billy Elliot, aber in den wenigstens davon wird wirklich getanzt. Der Tanz war wie ein Vorwand dafür, etwas ganz anderes zu erzählen“, sagt Icíar Bollaín. „Wir haben uns für das Gegenteil entschieden. Wir wollten einen Film mit Tanzszenen, die Teil der Geschichte sind, die wesentliche emotionale Momente durch die Choreografie erzählen.“
Yuli wird strukturiert durch zehn Choreografien, die mit den fiktionalen Filmszenen auf ganz unterschiedliche Weise verwoben sind. Ausgangspunkt der Erzählung ist eine fiktive Situation in der Gegenwart: Carlos Acosta verkörpert sich selbst als Autor und Regisseur einer Tanz-Performance, die sein Leben zum Thema hat. Von diesem Ausgangspunkt führt der Film zurück in seine Kindheit und Jugend, zu den Anfängen seiner Karriere, in die Zeit des steilen Aufstiegs zum Ballett-Weltstar.
Die Herausforderung bestand in den Übergangen und im Verweben der Szenen, verschiedenen Erzählebenen und Perspektiven zu einem großen Ganzen. „Wir waren uns des Risikos bewusst: Fiktion und Tanz, Carlos Acosta, der sich selbst spielt und noch dazu die Rolle seines Vaters in den Tanzszenen übernimmt – es war eine abenteuerliche Reise“, sagt Icíar Bollaín. „ Ich erinnere mich an ein Treffen mit Finanzierungspartnern, die gefragt haben: Aber wie geht das zusammen, wie wird das am Ende aussehen? Und ich konnte nur antworten: Das werden wir sehen.“
ACOSTA SPIELT ACOSTA
Die Idee, dass Carlos Acosta sich selbst spielen könne, kam von Paul Laverty und Icíar Bollaín gemeinsam – und Acosta ließ sich darauf ein. „Ich hatte von Anfang an Vertrauen in Paul und Icíar“, sagt Carlos Acosta. „Aber ich bin 45 Jahre alt, ich kann nicht mehr drei Meter hoch springen, und ich habe mich gefragt: Was erwartet man von mir in diesem Film? Soll ich der junge Mann von damals sein oder etwas anderes? Aber Icíar hat mich beruhigt. Sie sagte: Ich will dich, wie du jetzt bist, mit deiner Wahrheit von heute, ohne Verstellungen.“
Carlos Acosta brachte bereits einige Filmerfahrung mit. Aber Yuli stellte noch einmal eine ganz neue Herausforderung dar. „Die Arbeit an diesem Film gehört zu den bereicherndsten Dingen, die ich in meiner Laufbahn gemacht habe“, sagt Acosta, „aber sie war auch sehr schwer. Als ich meine Autobiografie geschrieben habe, war das fast wie eine Therapie für mich, ich wollte mit der Vergangenheit ins Reine kommen. 10 Jahre später lebte das alles nun wieder auf. Icíar hat mir das Vertrauen gegeben, diese Arbeit durchzustehen. Sie ist eine fantastische Regisseurin, sie täuscht sich fast nie und sieht weit über das hinaus, was man selbst sieht.“
An seine Grenzen kam Carlos Acosta, als er die Rolle seines Vaters in der Choreografie der Prügelszene tanzte: „In der Mitte der Szene veränderte sich plötzlich alles. Ich fing an zu reden und dem Tänzer, der mich spielte, immer heftiger nachzustellen, ich schlug mit dem Gürtel auf den Boden ... Der Tanz hörte auf, Fiktion zu sein, ich weinte, das ganze Team weinte. Als wir die Szene noch einmal drehten, kam der Moment, in dem ich zu Icíar sagte: Es tut mir leid, aber ich kann das nicht nochmal machen.“
SCHAUSPIELER UND TÄNZER
„Wir wollten keine Kameratricks, keine Schauspieler, die sich zwei Monate lang abmühen, um ein paar Bewegungen zu lernen“, sagt Paul Laverty. „Wir wollten die Faszination des Tanzes einfangen, in all seiner Schönheit und Disziplin.“ Die jungen Tänzerinnen und Tänzer des Ensembles im Film – wie Mario Sergio Elías, der Yuli in allen Tanzszenen verkörpert – sind Mitglieder von Acosta Danza, die Laverty zu Beginn seiner Arbeit kennengelernt hatte. Für die Rolle des jungen Carlos Acosta wurde nach einer langen Castingphase der renommierte Tänzer Keyvin Martínez besetzt. “Es ist nicht so anders, als Schauspieler oder als Tänzer zu arbeiten“, sagt Martínez. „Theater und Kino sind hilfreich für den Tanz – und umgekehrt. Für mich waren eher die Tanzszenen schwierig: Carlos Acosta ist der Tänzer par excellence, der beste der Welt, das Vorbild für alle Tänzer in Kuba, mich eingeschlossen. Ich wollte ihn nicht nachahmen, ich wollte ihn aus meiner Perspektive interpretieren.“
Edilson Manuel Olbera Nuñez gibt in der Rolle des Yuli als Kind ein spektakuläres Debüt. Daneben spielen u.a. die kubanischen Schauspielgrößen Laura de la Uz und Yerlín Pérez, junge Talente wie César Dominguez und Andrea Doimeadiós und nicht zuletzt Santiago Alfonso als Yulis Vater Pedro. Mit Alfonso schließt sich der Kreis zum Tanz: Er ist nicht nur ein herausragender Schauspieler, sondern auch renommierter Tänzer und Choreograf, der 2006 für sein Lebenswerk mit dem Nationalen Ballettpreis Kubas ausgezeichnet wurde.
EINE FAMILIENGESCHICHTE
Für Laverty und Bollaín war von Anfang an klar, dass die Kindheit Carlos Acostas eine zentrale Rolle im Film spielen würde, die Beziehung zur Mutter und den Schwestern, vor allem aber die Beziehung zum Vater, der Carlos zum Ballett gezwungen hatte. „Carlos hat sein Buch seinem Vater gewidmet, er hat ihn geliebt, trotz dessen Härte“, sagt Icíar Bollaín. „Diese widersprüchliche Beziehung hat mich interessiert. Der Vater ist eine außergewöhnliche Persönlichkeit, auf der einen Seite hart und jähzornig, auf der anderen Seite voller Liebe für seine Kinder und völlig unabhängig von gängigen Meinungen und Vorurteilen. Als er seinen Sohn auf die Ballettschule schickte, war es ihm völlig egal, was die Nachbarschaft darüber dachte. Am Ende des Films erinnert sich Carlos Acosta an seinen Vater und sagt: ‚Ich bin dein Sohn, ich bin das, was ich als Kind aufgesogen habe. Ich kann nur geben, was ich bin’.“
EINSAMKEIT
Ein Schlüsselmoment war für Paul Laverty die Einsamkeit von Carlos Acosta im Ballettinternat. Hier trafen sich ein kubanischer Tänzer und ein schottischer Drehbuchautor: „Ich musste selbst mit neun Jahren von Zuhause weg ins Internat. Diesen tiefen, bohrenden Schmerz werde ich nie vergessen, so wie Carlos ihn nicht vergessen hat“, sagt Paul Laverty. „Diese Einsamkeit wird im Film vor allem im Tanz ausgedrückt“, sagt Icíar Bollaín. „Dabei ist es weniger Melancholie, was die Choerografie vermittelt, es ist Wut, die Wut, allein auf der Welt zu sein. Manchmal ist es die Einsamkeit, in der man seinen eigenen Weg findet. Das ist Carlos Acosta passiert: Der Tanz war gleichzeitig sein Gefängnis und seine Zuflucht. Heute ist Carlos einer, der auf triumphale Erfolge zurückschauen kann, der eine Familie hat und unzählige Projekte vorantreibt. Aber da ist etwas in ihm, das immer noch schmerzt.“
KUBA
Icíar Bollaín verbindet eine lange Geschichte mit Kuba. Anfang der 90er Jahre besuchte sie Kurse an der von Gabriel García Márquez mitgegründeten Escuela Internacional de Cine y TV, später lehrte sie dort als Dozentin. Ein Aspekt, der sie und Laverty von Beginn an faszinierte, war der Umstand, dass sich in der Geschichte Carlos Acostas und seiner Familie die Geschichte Kubas der letzten 40 Jahre widerspiegelte: Die 80er Jahre, in denen die Sowjetunion und ihre realsozialistischen Verbündeten die kubanische Wirtschaft am Laufen hielt, die sogenannte „Spezialperiode“ nach dem Zerfall der Sowjetunion, das Jahr 1994, als unzählige Menschen übers Meer in die USA flohen, die anschließende Zeit der langsamen Konsoliderung.
„Wenn man von Kuba spricht, hat der politische Aspekt immer sehr viel Gewicht“, sagt Bollaín. „Aber wir wollten vor allem von einem Kuba erzählen, das weniger bekannt ist. Uns hat mehr die kulturelle Szene interessiert, das immense künstlerische Talent, die brillanten Tänzerinnen und Tänzer, die Menschen, die Familien.“ Der Werdegang von Carlos Acosta hat viel mit den Besonderheiten Kubas zu tun, vor allem dem freien Zugang zur künstlerischen Ausbildung. „Wir konnten alle etwas lernen“, sagt Carlos Acosta. „Wie hätte sich meine Familie aus eigenen Mitteln Ballettschuhe für mich leisten können? In Kuba war das möglich. Es war auch deshalb möglich, weil die Hautfarbe keine Rolle spielte – ein Umstand, der sich in Kuba in jedem Orchester oder Ballettensemble widerspiegelt.“
DAS ERBE DER SKLAVEREI
Es war Paul Laverty, der bei seiner Recherche in Kuba auf die Herkunft des Namens Acosta stieß – der Name einer Plantage, der auf die Sklaven überging, die dort lebten. „Das ist eine immense Fallhöhe“, sagt Icíar Bollain. „Der Urenkel von Sklaven, der am Royal Ballett als erster schwarzer Tänzer den Romeo tanzt.“ Tatsächlich ist das heutige Kuba ohne diesen Aspekt seiner Geschichte nicht vorstellbar: Fast eine Million Menschen wurden als Sklaven von Afrika nach Kuba verschleppt, nach der Verschärfung des Sklavenhandel-Verbots 1835 gab es regelrechte Aufzuchtprogramme, um den Nachschub an Menschenmaterial zu sichern. Erst 1886 wurde die Sklaverei abgeschafft. „Diesen Aspekt außen vor zu lassen, wäre mir merkwürdig vorgekommen“, sagt Paul Laverty. „Es ist ein Thema, das mit ganz Kuba zu tun hat und quer durch die Familien geht. Die Herausforderung bestand darin, dieses Thema zu behandeln, aber in der Balance mit der Familiengeschichte und der Geschichte zwischen Vater und Sohn zu halten.“
YULI – SOHN DES OGÚN
Ein wesentliches Element des „Afrocubanismo“ sind die synkretistischen Religionen. Die vor allem im Westen Kubas am weitesten verbreitete afrokubanische Religion ist die Santería, die auf den Traditionen der aus Nigeria und Benin stammenden Yoruba basiert. Anhänger der Santería – wie Carlos Acostas Vater Pedro – sind zugleich Mitglieder der katholischen Kirche, mit einem komplexen System der Synkretisierung, in dem u.a. die Orishas, vermenschlichte Götter und Geistwesen, katholischen Heiligen zugeordnet wurden. „Yuli, Sohn des Ogún“ nennt Pedro seinen Sohn – Ogún ist der Orisha u.a. des Eisens und einer von drei Orishas, für die Initiation der Krieger wichtig sind.
BILDGESTALTUNG
Mit dem vielfach ausgezeichneten Kameramann Álex Catalán hatte Icíar Bollaín ebenso wie mit Alberto Iglesias bereits bei También la lluvia – Und dann der Regen zusammengearbeitet. „Leute wie Álex oder Alberto können dieses Besondere schaffen, das über das Übliche hinausgeht“, sagt Icíar Bollaín. „Mit Álex zu arbeiten, bedeutet vor allem, viel Zeit in die Vorbereitung zu stecken. Es war ein langer Prozess, bis wir wussten, wie wir die Tanzszenen filmen wollten. Vieles, was auf dem Papier gut aussieht, ist ein Spiel mit ungewissem Ausgang. Aus welcher Perspektive sieht man den Tanz? Geht man mit der Kamera zu nahe an die Tänzer, verliert man die Bewegung, geht man zu weit weg, wird es langweilig, dann ist es kein Kino, sondern Theater. Das alles vor dem Hintergrund der sehr komplexen Arbeit mit den Tänzerinnen und Tänzern: Es ging dabei nicht nur um die Choreografien, sondern auch darum, dass man die Tanzszenen nicht endlos wiederholen kann, weil das physisch viel zu anstrengend wäre.“
CHOREOGRAFIE UND MUSIK
Stellte der Umgang mit den Tanzszenen eine Herausforderung für die Narration dar, war umgekehrt die Narration eine Herausforderung für die Choreografien von María Rovira und die Musik von Alberto Iglesias. Beide waren schon sehr früh in die Vorbereitung des Films eingebunden. „Die Tanzstücke durften nicht abstrakt sein“, sagt Icíar Bollaín. „Sie brauchten eine narrative Form, sie hatten bestimmte Teile der Geschichte zu erzählen: Yulis Einsamkeit im Internat, sein rasant wachsender Erfolg, die ambivalente Beziehung zu seinem Vater. Die Aufgabe bestand darin, nicht die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu verlieren: Mitten hinein in den Tanz zu springen und das Publikum dabei mit uns zu ziehen. Die Arbeit mit Alberto Iglesias und María Rovira hatte eine vitale Bedeutung für die Entwicklung des Films. Dieser Film ist ‚puro corazón’, er kommt von ganz tief innen. Und das spürt man in den Choreografien und der Musik.“
FINALE
Es war eine bewusste Entscheidung von Icíar Bollaín und Paul Laverty, nicht die glamourösen Seiten des Ballets zu zeigen. Erst ganz am Ende des Films sehen wir, wie sich das Opernhaus in Havanna mit Publikum füllt. „Auf diesem Niveu zu tanzen, bedeutet, brutale Opfer zu bringen“, sagt Icíar Bollaín. „Wir wollten das im Film auch dadurch ausdrücken, dass wir bei den Proben bleiben, dass wir nie volle Säle sehen. Ich war bei der Verabschiedung von Carlos Acosta in der Albert Hall – und es war beeindruckend, so viele Leute weinen zu sehen wegen all dem, was er ihnen gegeben hat. Es gibt etwas im Tanz, das wichtig ist.“
Yuli endet mit einem Anfang: „Nach Kuba zu kommen und dort meine Projekte zu machen, Acosta Danza und die Tanzakademie zu gründen, war ein Traum“, sagt Carlos Acosta. „Vielleicht war mir der Film deshalb so wichtig. Ich spüre zur Zeit in Kuba eine große Erschöpfung. Viele haben mich davor gewarnt, mich so in meine Projekte zu stürzen. Aber ich will etwas zurückgeben. Und wenn es am Ende nicht funktioniert, dann ist das eben so – aber ich habe es wenigstens versucht.“